Uwe Laugwitz
Zum vierten Band des Neuen Shake-speare Journals

Wer liest überhaupt Shakespeare?

Überhaupt sind meine Shakespeare-Kenntnisse beklagenswert dünn. In der Schule wurde mal der unvermeidliche Hamlet mehr schlecht als recht abgehandelt, und an der Uni hab ich über den schönen Tempest gearbeitet — ansonsten nichts als Lücken, leiderleider.
Diese Äußerung stammt nicht von irgendeinem müden Gelegenheitsleser, sondern von einem Joyce- und Beckett-Experten, sprachmächtigen Übersetzer aus dem Englischen und auch sonst sehr an guter Literatur Interessierten. Ich sage daher wohl nicht zuwenig, wenn ich sie als symptomatisch für die generelle Einstellung zu Shakespeare halte, die bei den Gebildeten dieses Landes vorherrscht. Es war übrigens fast genau auch meine eigene vor einiger Zeit. Auch wenn alle immer wieder das Gegenteil nachplappern: Keiner liest Shakespeare.

Dieses Desinteresse widerspricht der von Dietrich Schwanitz behaupteten Lebendigkeit des Werkes, das er in seinem ironischem Beitrag zum Goethejahr ("ich bin des trocknen Tons nun satt") dem Werk Goethes, dem "Erfinder" Shakespeares, gegenüberstellt. Auch in seinem Buch über den Kaufmann von Venedig (Rezension erfolgt im nächsten Band) verspricht er sich viel von Shakespeares Wirksamkeit.

Was hat also Erfolg – was nicht? Dieses Journal? Mehr als erwartet, trotz vielfacher Ignorierung. Shakespeare in Love? Viel Aufregung in der auf Hollywood starrenden Presse, aber auch einige klügere kritische Stimmen. Kommt ebenfalls erst in der nächsten Folge unseres Presse-Spiegels (den durch seine Einsendungen zu bereichern jeder Leser hiermit aufgefordert wird). Edward III.? Weitreichendes Desinteresse, trotz der in der Pressesammlung zitierten anregenden Äußerungen.

Sehr erfolgreich scheint jedoch das Vorgehen Harold Blooms zu sein, der seinen eigenen Shakespeare-Kult nahtlos in die Bewunderung für Harold Bloom, den einzig potenten Shakespeare-Leser, übergehen läßt – wie von Hans Ulrich Gumbrecht mit Anteilnahme nachgewiesen. Diese Anteilnahme geht ja Bloom selbst völlig ab. Die hochangesehene Zeitschrift Harper’s Magazine veröffentlichte im April-Heft 1999 eine Sammlung von zehn Aufsätzen bekannter Namen zum Thema "Wer schrieb Shakespeare?", wovon 5 Stratfordianier und 5 Oxfordianer sind (soweit schon ein Erfolg der Oxfordianer, als gleichberechtigte Gesprächspartner statt als crackpots angesehen zu werden). Der Beitrag von Harold Bloom allerdings fällt gleich zu Beginn durch seine plump-anbiederische Ironie aus der Reihe:

Wie mir meine Korrespondenz zeigt, sind seit der Veröffentlichung meines Shakespeare: The Invention of the Human im Oktober 1998 Oxfordianer das sub-literarische Äquivalent der sub-religiösen Scientologen. Man will nicht mit ihnen argumentieren, weil sie dogmatisch und beleidigend sind. Ich werde deshalb den Graf von Sobran [gemeint ist der Beitrag von Joe Sobran] auf sich beruhen lassen und mich auf die poetische Kraft von Shakespeares Sonetten beschränken, und das Verhältnis jener Kraft zu jenem inzwischen ehrwürdigen Versuch demonstrieren, daß jemand — irgendjemand außer "dem Mann aus Stratford" — die Dramen und Gedichte von William Shakespeare schrieb.
Das Resultat seiner Bemühungen:
Der Graf von Oxford, gestorben bevor Shakespeares zwölf letzten Dramen überhaupt verfaßt wurden, hinterließ einige gemeinplätzige Gedichte, die nicht wert sind, daß man sie ein zweitesmal liest. Diejenigen, die Shakespeare ablehnen, werden immer mit uns sein; unsere einzige Antwort sollte sein, zu den Stücken und den Sonetten zurückzukehren.
Also auch Harold Bloom liegenlassen, der, schlicht gesagt, auch nur Sekundärliteratur liefert? Man sollte sich davon weder abschrecken noch einschüchtern noch beeindrucken lassen: sprechen wir also — noch einmal von vorn — von der scheinbar allwichtigen Chronologie; lesen wir doch einmal de Veres Lyrik (geplant für Band 6) etc.

Leseerwartung, Emotionen und Hochstapelei

Eine andere Art, literarischen Erfolg zu haben, zeigt der Fall "Binjamin Wilkomirski":

Das Buch heißt "Bruchstücke", sein Untertitel in lautet "Aus einer Kindheit 1939-1948". Erschienen ist es vor drei Jahren im Jüdischen Verlag bei Suhrkamp. [...] Der Autor nennt sich Binjamin Wilkomirski, und der Name ist wahrscheinlich ebenso erfunden wie die Geschichte. [...] Der Vorwurf: Da setzt sich ein Bruno Doessekker vom Zürcher Killesbeng hin und schreibt die Geschichte eines zweijährigen Jungen aus Riga, der in die Mordmaschine der Nazis gerät. Das könnte ein Roman sein [...]. Vor die Literaturkritik aber haben die Götter in diesem Fall die Quellenkritik gesetzt, denn es soll sich um eine wahre Geschichte handeln [...]. Auf den Gedanken, die Sache mit den Mitteln der Geschichtswissenschaft zu untersuchen, ist jedoch niemand verfallen, bis sich jetzt der Schriftsteller Daniel Ganzfried zu Wort gemeldet hat.

[...] Sein Ergebnis: Wilkomirski-Doessekker ist Doessekker und nicht Wilkomirski. Außerdem gibt er zu Protokoll, daß Doessekker ihm gegenüber alle Einwände zurückgewiesen und von einer antisemitischen Verschwörung geredet habe. [...] Der Befund des Kritikers ist hart. Er lautet auf Pseudologie. [...] aber Ganzfried geht noch weiter. Er wirft den Lobrednern der "Bruchstücke" zu Hause in der Schweiz wie in der weiten Welt eine Sperre der Kritikfähigkeit vor.

Tatsächlich hat Wilkomirskis Ruhm den Atlantik mühelos überquert. [...] Noch schwerer wog das Lob Maurice Sendaks [...]. Für ihn war Wilkomirski der lebende Beweis für die These daß Kinder, gerade die Kinder des Holocaust, ihre Erinnerungen bewahren. Das spricht in der Tat für hochgradige Verwirrung.

Daß diesseits und jenseits der Ozeane nur Ganzfried der Verdacht gekommen ist, Wilkomirski habe seine Kindheit erfunden, ist in der Tat erstaunlich. [...]

[Jost Nolte: Wuchernde Phantasie über dem Abgrund. DIE WELT, 2. 9. 1998.]

Wilkomirskis Buch bekam hervorragende Kritiken. Es ist interessant, sie jetzt, einige Jahre danach und im Bewußtsein dessen, was Ganzfried aufgedeckt hat, noch einmal zu lesen. Im britischen "Guardian" wurde dieses Buch "eines der großen Werke über den Holocaust" genannt, und die "New York Times" sprach von "einer poetischen Vision mit dem Zauber kindlicher Unschuld". Auch im deutschen Sprachraum war der Tenor nicht anders. [...] Doessekker ist ein ärgerlicher Patient, der ein ärgerliches Buch geschrieben hat. Doch er bringt damit die komplexen Mechanismen ans Licht, von denen unser Umgang mit dem Holocaust immer noch gesteuert wird. [Leon de Winter: Die erfundene Hölle. Der Spiegel 40/1998]

Es geht hier nicht um den Holocaust, der als Beispiel für einen Bereich steht, der an die Kritikfähigkeit besonders hohe Anforderungen stellt. Man kann an der Geschichte erkennen, daß es dann ganz besonders schwierig ist, über einen Gegenstand zu urteilen, wenn er emotional stark verankert ist (wenn er es aber nicht ist, interessiert er auch entsprechend weniger). Es ist ein ähnlicher Fall wie bei Luciana Glaser: Ein Autor, egal ob dumpf oder ironisch berechnend, schafft es, die Erwartungshaltung der vorherrschenden Literaturkritik zu treffen und erntet Erfolge. Dieser Mechanismus fällt aber nur dann krass ins Auge (und wird meist schnell abgetan), wenn der Autor ein Schwindler oder ein Satiriker ist.

Nun fällt der Fall Shakespeare natürlich weder in die eine noch in die andere Kategorie; es ist vielmehr so gewesen, daß die jeweilige Leserschaft aus ihren Erwartungen ihr Shakespeare-Bild geformt hat – insoweit ist Schwanitz’ Darstellung zuzustimmen. Gegen diese hochmotivierte "Sperre der Kritikfähigkeit" anzuschreiben, fällt schwer – und kann zu jenem Gefühl "hochgradiger Verwirrung" führen, das auch die Shakespeare-Diskussion immer wieder liefert.

Was bietet dieser Band?

Angesichts all dieser Hochtrabendheit – dem tollsten Hollywood-Film, dem tollsten Shakespeare-Leser mit wahrhaft religiösem Sendungsbewußtsein etc. – bieten wir zum Teil Schonkost, zum Teil schwerverdauliche, aber unverzichtbare Grundnahrung wie den Aufsatz von Robert Detobel über Nashes’ Brief, der die in Band 1 begonnene Serie über Greene’s Groatsworth of Wit und die Folgen abschließt.

Ansonsten neben der Fortsetzung unserer Reihe von Shakespeare-Porträts durch Katherine Chiljan und Derran K. Charlton interessante Kleinigkeiten in der Art von "Notes & Queries" bzw. aus dieser Zeitschrift selbst oder von ihr angeregt. Deren Titel ist gar nicht so einfach zu übersetzen: Ausrufe- und Fragezeichen würde ebenso passen. Ausrufezeichen setzen wir hier auch hinter bereits Gedrucktes: Zeitungspapier ist kurzlebig und gut Geschriebenes lohnt auch eine zweite Lektüre; außerdem wird kaum ein FAZ-Leser auch die WELT oder gar die Wiener Zeitung (Walter Klier über Joe Sobran) lesen; die "Elisabethan Review" scheint hierzulande sogar völlig unbekannt zu sein, was nicht nur wegen des wirklich grundlegenden Essays von Peter Moore bedauerlich ist. So werden wir also weiterhin, auch im Sinne der "Notes", über den Tellerrand blicken und das aufpicken, was bei vielleicht allzu hastiger Lektüre übersehen worden ist, z. B. Jochen Zwicks erhellende Hamlet-Entdeckung. Dabei mag dieses Übersehen mehr als 100 Jahre her sein – wie die netten Fundstücke aus den Notes & Queries der Jahre ab 1850 belegen.

Wir Enthusiasten

Im Vorwort zu Band 1 dieses Journals schrieb ich: "Enthusiasmus bringen wir soviel auf, wie es die Natur der Sache erfordert" – eine deutliche Erwiderung auf die vorher zitierte Behauptung eines inzwischen keinesfalls mehr entschiedenen Anti-Oxfordianers, wir wären per se "Enthusiasten von Konspirationstheorien". Hierauf bezieht sich nun wiederum Friedmar Apel in seiner Rezension dieses Bandes:

Seine Autoren bezeichnet Laugwitz als Enthusiasten, obwohl er weiß, daß Enthusiasmus in Deutschland seit Kant ein Schimpfwort ist.

Nach Kants Definition möchte der Enthusiast erkennen, was nicht zu erkennen ist, und er betreibt dabei einen übergroßen Aufwand an Geistes- und Gemütskräften. Der freilich ist für die Stützung der Oxford-These unverzichtbar. [...]

Es ist ja immer der Verdacht im Raum, daß jemand, der sich um eine Sache bemüht, tatsächlich ein belächelnswerter Enthusiast ist, dessen Energie sich aus trüben Triebquellen speist und dessen Urteilsfähigkeit entsprechend ausfällt. In der ironischen Überhebung über den Enthusiasten schwingt immer etwas von der Zufriedenheit desjenigen mit, der bequemer damit fährt, in sattem Nichtstun zu verharren. Fairerweise räumt Apel aber ein, daß Geisteswissenschaft ohne Enthusiasmus nicht auskommt:
Gut beobachtete Analogien darf man in den Geisteswissenschaften getrost Fakten nennen. Sie bedeuten aber wenig, wenn sie nicht, wie Friedrich Schlegel sagt, "durch Enthusiasmus und mit philosophischem, poetischem oder sittlichem Sinn aufgefaßt werden". Laugwitz und seine Mitstreiter führen ihren Indizienprozeß [...] in diesem liberalen Sinne.

Friedmar Apel: Starker Schimmer kleiner Kerzen. Eine Lanze für Oxford: Das Journal der Shake-Speare-Enthusiasten. FAZ, 11. 11. 1998.

So hatte ich also ohne es zu wissen Friedrich Schlegel gemeint, als ich etwas mehr Enthusiasmus für die Sache Shakespeares einforderte, als es das überall vorherrschende Desinteresse zu bieten vermag. Würde ich aber deshalb Hymnen wie die folgende unterschreiben?
Shakespeare [hat] uns ein Werk geschenkt, das das Lebensgefühl erhöht, den Optimismus stärkt und das Vertrauen in die Fähigkeiten der Menschheit heilt, über sich selbst hinauszuwachsen. Er ist das Urbild des kreativen Genies. [...] Er [...] erweckt zum Leben, er schafft eine Welt. Seine Werke sind auf der Bühne lebendig wie die keines anderen Dramatikers. [...] Er entzieht sich allen historistischen, postmodernen und dekonstruktivistischen Relativierungen und behauptet sich mühelos in einem Ozean von Entwertungen, der alles andere sonst überspült. Er ist ein kanonischer Dichter in der ganzen angelsächsischen Welt, er wird in den Schulen aller zivilisierten Völker gelehrt, seine Geschichten haben die Funktion von modernen Mythen angenommen, deren Personal jeder Gebildete kennt. In ihm verdichtet sich das Vertrauen in den Wert unserer Kultur. Er steht über allen Kämpfen und bietet eben darin Orientierung.
Man sollte doch denken, daß ein wiederentdecktes Werk (Edward III.) eines solchen Autors eine gewisse Aufmerksamkeit im gebildeten Publikum erwecken könnte. Solange dies aber nicht der Fall ist, werde ich weiterhin aller öffentlich geäußerten Shakespeare-Begeisterung gegenüber eine unüberwindbare Skepsis empfinden.